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Seminar "Literatur und Geschichte"

Dem Verfasser gelingt in seiner Seminararbeit eine sehr fundierte und anschauliche Darstellung eines bislang viel zu wenig beachteten Themas.

Studenten sind sehr zufrieden, wird eine ihrer Seminararbeiten so oder ähnlich beurteilt. Ist es ein Schüler, der diese im Rahmen eines W-Seminars erstellt, hat er einen Grund stolz zu sein. Zumal das Prädikat von wissenschaftlichen Fachkräften stammt, die im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur arbeiten und die Arbeit deshalb auf zeitzeugenbüro.de veröffentlichten:

„Der 17jährige [Schüler, geändert wegen Datenschutz] beschäftigt sich in seiner Seminararbeit mit dem Titel ‚Zensur, Verfolgung, Zersetzung – Kulturpolitik einer Diktatur am Beispiel des Literaturbetriebes in der DDR‘ mit der Kunst- und Literaturpolitik der SED. Dabei gibt er einen historischen Überblick über die Entwicklung der politischen Einflussnahme auf Autoren, Verlage und andere Akteure des kulturellen Lebens in der DDR.

 

Er skizziert beispielhaft den Ablauf einer literarischen Veröffentlichung. Anhand mehrerer Künstler-Biografien demonstriert er, wie sich die zensierenden und zersetzenden Methoden der Staatssicherheit sowohl auf die Kulturlandschaft der DDR als auch auf die ganz persönlichen Lebensläufe der Künstler auswirkte. Ihm gelingt in seiner Seminararbeit eine sehr fundierte und anschauliche Darstellung eines bislang viel zu wenig beachteten Themas.“ Wer weiter einsteigen möchte, die Arbeit steht nach wie vor auf der Startseite von zeitzeugenbuero.de zum Download bereit.

Auch die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) prüfte die Arbeit genauer. Sie hat sie ebenfalls auf ihrer Homepage veröffentlicht und zudem ein gedrucktes Exemplar als eigenen Titel in ihre Bibliothek aufgenommen.

Der diesjährige Abiturient  hat mithin gute Gründe, stolz auf sich zu sein. Wir gratulieren ihm herzlich zu dieser reifen, sehr qualifizierten Leistung. Aus der Präsentation der Arbeit: Eröffnung der Akademie der Künste der DDR am 24.3.1950, Prof. Nagel empfängt von Staatspräsident Pieck die Urkunde.


An diesem Beispiel wird zweierlei sichtbar:


Erstens: Die Seminare bieten einen recht offen gestaltbaren Raum für Fragestellungen und Perspektiven, für die sonst wenig Platz ist. Neue Wege der Verquickung und Vertiefung können spannend beschritten und tragfähig gebahnt werden. Hier geschah dies im W-Seminar „Literatur und Geschichte“. In verschiedenen Zeitfenstern gingen wir Wechselwirkungen nach, wie sie sich zwischen Literatur und zeitgenössischem Kontext auftun, mal ganz typisch, mal sehr eigen. Dabei arbeitete jeder fächerübergreifend sowie im Tandem mit verwandten Themen im gleichen Zeitfenster.

Zweitens: Wissenschaftspropädeutik ist machbar.

Beides bestätigt eine weitere Arbeit, die hier Erwähnung verdient. Eine Schülerin arbeitete zu, so kann man das sagen, Christa Wolfs letzter größerer Erzählung, „Stadt der Engel“. Das tat sie nach Aufhebung der Seitenbegrenzung so, dass die Arbeit nun von einem wissenschaftlichen Verlag publiziert wird. Die Arbeit klärt aus dem deutsch-deutschen Literaturstreit heraus, der Anfang der 1990er Jahre der Autorin den Vorwurf der opportunistischen Staatsdichterin einhandelte, Hintergrund und Absicht des Werks. Dann klärt sie entlang der DDR-Geschichte und der jeweiligen Positionierung der Autorin darin, von den 1950er Jahren bis zur Ausbürgerung Biermanns, zu welchen Ergebnissen Wolf in dieser literarischen Selbstbefragung jeweils kommt. Gleichzeitig analysiert sie, wie das „Textgewebe“ dabei getragen wird von einer speziellen, in einigen Punkten der Autorin schon seit ihrem Bruch mit dem Regime Mitte der 1960er Jahre ganz eigenen Erzähltechnik, ja Auffassung vom Schreiben. An weitere Primär- und an die Sekundärliteratur angeschlossen erreichen diese Befunde poetologischen Aussagewert.

Durch das Lektorat ist die Arbeit durch und der Vertrag liegt vor. Im Spätsommer wird die Arbeit als Monographie erscheinen. Die erste Promotion, die sich wissenschaftlich standesgemäß genauer mit Wolfs Erzählung beschäftigt, wird hier noch nicht fertig sein. Herzliche Gratulation zu ihrer erfolgreichen Grundlagenarbeit. Im Sinne der Geisteswissenschaften und der propädeutischen Zielsetzung der W-Seminare ergibt sich damit ein erfreuliches Bild, wohltuend und motivierend.

Vollständig wird dieses Bild allerdings erst mit mindestens vier weiteren Arbeiten, die hier nicht alle einzeln umrissen werden sollen, doch ähnlich ergiebig gerieten. Nach der gemeinsamen Hinführung im Seminar wurde hier ähnlich sorgfältig und Stück für Stück immer selbständiger, methodisch solide und inhaltlich differenziert gearbeitet.

Stellvertretend kann dafür die Arbeit von Fabian Faßbender stehen. Sie trägt den etwas sperrigen Titel „Verfolgte Lyrik aus der DDR an exemplarischen Analysen an Gedichten von Reiner Kunze, Günter Kunert und Jürgen Fuchs“, bringt es ansonsten aber auf den Punkt. Als Tandem-Arbeit vertieft sie die literarische Seite, vervollständigt so den Beitrag zur Kulturpolitik der DDR und erfüllt wie andere den übergreifenden Ansatz des Seminars. Sie ist ebenfalls mit sehr gut bewertet. Und sie liefert mit einem Gedicht von Günter Kunert – kommt gefällig um die Ecke, aber in der Analyse messerscharf, so soll es sein – gleich noch den passenden Abschluss für das, als was wir Literatur nicht nur in diesem Zeitfenster der deutschen Geschichte erkannt haben – mal Projektion, mal Reflexion, mal Instrument, natürlich oft selbst ambivalent und nie gefeit.

Andreas Simon

Literatur- und geschichtswissenschaftliche Propädeutik im W-Seminar
Literatur- und geschichtswissenschaftliche Propädeutik im W-Seminar 2